„Ich will erstmal eine Grundfitness aufbauen, bevor ich bei euch mit dem Training anfange.”
Ja, klar. Genau. Sicher. Meine Antwort lautet immer nur: „Okay, mach das. Viel Erfolg. Wir sehen uns dann.”
Auch wenn ich mittlerweile aus Erfahrung ganz genau weiß, dass wir uns niemals sehen werden. Denn wie oft habe ich diesen Satz in meinen Jahren als BJJ-Coach und Kampfsportschulenbetreiber mittlerweile schon gehört? Und wie oft ist es anschließend passiert, dass jener Mensch eines Tages wirklich auftauchte? Nachdem er seine angebliche Grundfitness aufgebaut hatte? Noch kein einziges Mal. Ohne zu übertreiben: niemals. Letztens hatte ich den Anruf eines sehr angenehmen Menschen erhalten, welcher sich bei mir über die Möglichkeiten eines Probetrainings bei IPA erkundigen wollte und einige Fragen hatte. Nach einem informativen Gespräch verblieben wir so, dass wir uns in der kommenden Woche kurzschließen und einen Termin zum Probetraining vereinbaren würden. Beim erneuten Kontakt wenige Tage später nannte er dann den eingangs erwähnten Vorsatz. Ob er bereits weiß, dass er niemals zu uns kommen wird?
Durch meinen Beruf sammle ich tagtäglich vielfältige Erfahrungen in der sozialen Interaktion und erhalte einen meiner Meinung nach umfassenden Einblick in die menschliche Psyche. Und lerne verdammt viel über verschiedene Persönlichkeitstypen. Was jedoch immer und überall gleich bleibt: Was zählt, sind Taten. Worte sind oftmals schlicht und ergreifend wertlos. Menschen neigen dazu, Dinge zu sagen bzw. anzukündigen, die dann anschließend nicht so (oder sogar komplett gegenteilig) passieren. Und ich glaube nicht, dass ihnen dabei klar bewusst ist, dass das, was sie sagen, so nicht eintreten wird. Oder gar aktiv lügen. Sondern einfach, dass es die menschliche Natur ist, Dinge zu glauben. Und Glaubenssätze bzw. Meinungen und Ansichten ändern sich halt. Genau wie Interessen, Pläne und Ziele. Und gerne passiert dies auch mal relativ spontan und oft. Und manchmal – und das darf man nie vergessen – kommt auch einfach das Leben dazwischen.
Ich war bzw. bin in den Betrieb von IPA stark involviert. Auch wenn ich mein persönliches Engagement – aus Selbstschutz – mittlerweile merklich zurückgefahren habe, bin ich immer noch jeden Tag da und sehr präsent. Ich kenne die Namen aller unserer erwachsenen Schüler, derer Lebenspartner, Nachwuchs und Haustiere. Außerdem, auch wenn das Programm von Niklas geleitet wird, habe ich ein Auge auf sämtliche Kinder, die bei uns trainieren, und gebe Acht auf unsere Schützlinge – sei es vor Ort bei IPA oder draußen auf den Straßen unserer Nachbarschaft. Mit den Eltern stehe ich in Kontakt und lege auch hier Wert darauf, sämtliche Namen zu kennen.
Aufgrund der Natur der Sache, dass unser Sport für alle unsere Mitglieder ein Hobby ist und ich (mit Niklas) der Einzige bin, der dies als alleinigen Beruf ausübt, kommt es zu einer interessanten Situation: Die Menschen, die bei uns trainieren, tun dies wie gesagt als Hobby. Es ist für sie eine (sehr angenehme) Freizeitbeschäftigung, welche neben der sportlichen Ertüchtigung und den damit verbundenen gesundheitlichen Vorteilen auch noch Selbstvertrauen, Disziplin und Persönlichkeitsentwicklung mit sich bringt. Und natürlich den unschätzbaren Wert der Fähigkeit der Selbstverteidigung. Dennoch: es bleibt ein Hobby. Niemand verdient damit sein Geld, jeder geht einer Arbeit nach. Keiner macht es zu seiner Lebenspriorität – von dem seltenen Spezialisten mal abgesehen. Und das ist auch gut so. Es gibt ein Leben außerhalb der Matte und das habe ich, als jemand, der dieses jahrelang schmerzlich vernachlässigt hat, erst auf die harte Tour lernen müssen.
Die erwähnte Situation ist nun folgende, nämlich die eines farbenreichen Kontrasts: Zu unseren Schülern pflege ich ein (möglichst) enges Verhältnis. Sie sind zudem unsere zahlenden Kunden. Gleichzeitig, aufgrund der Nähe, die unser Sport nach sich zieht, entstehen Freundschaften und soziale Kontakte auf der Matte. Für mich hingegen ist BJJ nicht nur mein Sport und meine Leidenschaft, sondern ich betreibe IPA als Hauptberuf und bin in meiner Rolle ein Profi. Fernab jeglicher Perfektion, sicherlich. Aber als professioneller Kampfsportschulenbetreiber lege ich Wert auf eine gewisse Art der Arbeit und des Verhaltens. Und bringe dabei mir wichtige Wertevorstellungen zum Ausdruck, wie zum Beispiel Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Klarheit. Und das tue ich mit einer konsequenten Beständigkeit. Dies will ich nicht nur tun, weil es mein Anspruch an mich selbst ist. Sondern dies muss ich tun. Sonst wäre ich kein Profi.
Unsere Schüler hingegen betreiben den Sport als Hobby. Und wer möchte in seiner Freizeit ständig mit der Attitüde glänzen, die man in seinem Berufsleben sicherlich zur Anwendung bringt? Nicht viele, denke ich. Das würde keinen Spaß machen. Dies ist auch wahrscheinlich der größte Grund, warum meine Leidenschaft für BJJ, welche die größte meines Lebens war und ist, merklich abgenommen hat. Denn es ist jetzt nun mal mein Beruf. Unsere Schüler jedoch möchte ich aktiv davor schützen, ihren Spaß am Sport zu verlieren. Daher erwarte ich auch nicht, dass sie sich verhalten, wie ich es als ihr Chef im Berufsleben täte. Es ist und bleibt Freizeitbeschäftigung. Dennoch: der Kontrast ist spürbar.
Mit der Zeit musste ich da einen Weg für mich finden. Denn zu erwarten, dass die Menschen sich ändern würden, wäre nicht nur unrealistisch, sondern auch nicht zielführend. Wie schon erwähnt, der Sport bei uns soll Spaß machen. Auch wenn wir ein aktives Wettkampfteam sind und hohe Ansprüche an Technik und Disziplin haben. Ein Mittelweg, der mich in meiner Erwartungshaltung zufriedenstellen und gleichzeitig den Anderen (und mir) nicht die Freude verderben würde, war erforderlich. Und dafür war es teilweise notwendig, mich in meinen Empfindungen zu regulieren, aber vor allem auch, Abstand zum Thema zu gewinnen. In emotionaler Hinsicht, wie aber auch in physischer.
In vielen Bereichen des Lebens denke und handle ich auf stoische Art und Weise. Und bin damit mittlerweile sehr erfolgreich. Früher war es für mich unheimlich schwierig, belastende Dinge nicht an mich heranzulassen und insbesondere die, die schlicht nicht von mir als einzelner Person verändert werden können, zu akzeptieren. Und ein Stück weit meinen Frieden damit zu finden. Alles, was jedoch mit IPA in Verbindung stand, betraf mich persönlich und zutiefst. Was in gewisser Hinsicht, besonders in der Gründungsphase eines Unternehmens und der darauffolgenden Zeit, nicht ungewöhnlich ist – wie ich mir von erfahreneren Kollegen mittlerweile habe erklären lassen. Jedoch kann dies kein Dauerzustand sein. Nicht nur brennt man damit auf lange Sicht aus, sondern es ist tatsächlich auch kein professioneller Umgang mit der eigenen beruflichen Situation. Denn man gefährdet damit die Qualität seines Produkts und den Erfolg des Unternehmens.
Kein Mensch kann gefühllos sein. Und sollte auch nicht versuchen, dies zu erreichen. Jedoch stets von den eigenen Gefühlen in seiner Arbeit belastet zu werden? Das zeichnet keinen Profi aus. Es bedarf eines praktikablen Weges, der gesetzte Ansprüche in ein realistisches Maß setzt und diese erfüllt. Dabei die eigenen Ressourcen schonend und respektvoll behandelt. Und ein Leben mit beruflichem Erfolg und privatem Glück möglich macht und miteinander vereint. Der Verzicht auf Perfektion, welche mir sonst immer sehr wichtig war, gehört diesbezüglich ganz klar dazu. Es ist weder gesund noch professionell, Perfektion zu erwarten oder anzustreben. Nicht von und bei sich selbst oder seinen Mitmenschen.
Auch das musste ich erst auf die harte Tour lernen. Irgendwann wurde einfach alles zu viel. Wir wurden bei IPA immer mehr Mitglieder und nahmen immer mehr Einheiten in unseren Trainingsplan auf. Nicht nur mussten all diese Menschen in unser Team integriert werden und unsere Wertevorstellungen und Umgangsformen erlernen, sondern dann ja auch noch Jiu Jitsu beigebracht bekommen. Dass ich aufgrund der steigenden Mitgliederzahlen immer mehr darin gefordert war und wir gleichzeitig einen immer volleren Trainingsplan anboten, stand irgendwann, sehr plötzlich sogar, in keinem Verhältnis mehr zu meinen Ressourcen. Zeit und Energie fehlten mir, um alles zu bewältigen. Und meine Laune und die Qualität meiner Arbeit litten darunter massiv. Mir war klar: es musste sich etwas ändern. Relativ schnell entschloss ich mich dazu, künftig auf (angestrebte) Perfektion zu verzichten. Denn wie wichtig war diese wirklich? Wie sehr setzten unsere Leute diese eigentlich voraus? Bemerkten sie diese überhaupt? Oder war das alles in meinem Kopf und ich derjenige, der all das wollte und voraussetzte?
Nach einer anfänglichen Schockphase, in der ich mich sehr unwohl damit fühlte und einige Zeit brauchte, um mich umzugewöhnen, stellte sich diese Strategie jedoch sehr schnell als Segen heraus. Nicht nur befreite der Verzicht auf Perfektion mich von unheimlich viel Druck, den ich mir dadurch aufgebaut hatte, sondern es schonte auch ganz viel Zeit und Energie. Welche ich einerseits dafür nutzen konnte, mir selbst wieder mehr Zuwendung zu geben. Andererseits jedoch – nach einer gewissen Zeit der Erholung – auch dazu führte, dass ich plötzlich mehr Kraft und Kreativität für IPA hatte, welche sich langfristig als erfolgsfördernd herausstellen sollte. Nachdem ich dies festgestellt hatte, war mir klar, dass ich niemals wieder zur alten Strategie zurückkehren würde. Ich fing sogar aktiv an, das Unterlassen des Anstrebens von Perfektion in mein Bewusstsein einzubauen. So stark waren die positiven Effekte. Irgendwie konnte ich auf einmal einfach viel mehr machen, schneller entscheiden und öfter Erfolge feiern. Nur eben keine perfekten mehr. An der 80/20-Regel ist womöglich wirklich etwas dran.
Außerdem habe ich mir Hilfe bei meinem Team geholt und lasse mich nun deutlich öfter vertreten. Und zwar nicht nur im Krankheitsfall – wenn der Körper quasi schon schlapp gemacht hat. Sondern regelmäßig und auch dann, wenn es „eigentlich nicht nötig” ist. Einfach präventiv und zum Zweck einer besseren Work-Life-Balance und einem größeren Glück im Leben. Auch wenn es schwierig war: Die Einsicht und die daraufhin vorgenommene Änderung hat vieles möglich gemacht. Insbesondere auch andere Leute einzubinden, Kontrolle abzugeben, Vertrauen auszusprechen und im Zweifelsfall einfach mal ein Auge zuzudrücken, wenn etwas nicht optimal läuft, hat ganz viel dazu beigetragen, dass es mir nicht nur besser geht, sondern IPA sich als Akademie positiv verändert hat. Ich kann nun so viel mehr Bälle jonglieren und gleichzeitig in der Luft halten. Und wenn mal einer runterfällt? Dann ist das so.