Ich schreibe diesen Artikel mit angeschwollenen Faustknöcheln und einer blutigen Stelle an meiner rechten Hand. Während am vergangenen Samstag bei IPA eine weitere Ausgabe des IPA Grapple Cups von unserem geschätzten Trainingspartner Julian Steen ausgerichtet wurde, verließ ich für einen Moment die Akademie. Nachdem das Event bereits seit Stunden andauerte und ich bei all dem Lärm und dem Stress langsam an meine Belastungsgrenze kam, machte ich mich mit einer Freundin auf und wir unternahmen einen kleinen Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein.
Ich weiß nicht, wieso in meinem Leben immer und immer wieder Situationen geschehen, in denen meine Fähigkeiten als Kampfsportler, Türsteher und Konfliktberater zum Einsatz kommen – nicht selten auch unter extremen Bedingungen und dem Erleben von physischer Gefahr. Doch habe ich mich allmählich daran gewöhnt und wenn ich ehrlich bin, freue ich mich jedes Mal aufs Neue. Da ich mich als Adrenalin-Junkie, der jedoch heutzutage einen gesunden Lebensstil zu pflegen versucht, vom proaktiven Erzeugen gefährlicher Situationen bewusst entfernt habe, muss ich auf Zufälle warten, die das Leben hergibt. In diesen Situationen habe ich keine Wahl, als mich mit der Gefahr auseinanderzusetzen. Die Zeiten selbstschädigenden Verhaltens sind glücklicherweise vorbei. Aber wenn besagte Freundin und ich – völlig zufällig – bei einem Spaziergang einen Einbruch in der unmittelbaren Nachbarschaft von IPA live bezeugen? Dann wird dem Täter klargemacht, dass dieses Verhalten hier nicht geduldet wird.
Sie und ich gehen allmählich zurück. Als Coach habe ich schon lange das Problem, dass ich einerseits meine eigenen Bedürfnisse nicht mehr vergessen und nach jahrelanger Vernachlässigung wieder mehr in den Vordergrund stellen möchte. Gleichzeitig ist es mein Anspruch, mein Team beim Wettkampf natürlich aber auch zu unterstützen und möglichst präsent zu sein. Also machen wir uns auf den Rückweg, nachdem wir auf einer Parkbank ein anregendes Gespräch geführt haben, welches uns in der Zukunft sicherlich interessante Erlebnisse miteinander bescheren wird.
Als wir an einer Häusersiedlung vorbeikommen, fällt uns das lautstarke Gespräch zwischen einer Frau und einem Mann auf. Mehrfach fordert sie ihn zur Rückgabe eines Schlüssels auf. Er erwidert immer wieder, dass er keinen genommen habe. Zunächst halten wir es für einen Beziehungsstreit, der uns nichts angeht. Aber aufgrund der Stimmlage der Frau entschließe ich mich, ein paar Schritte näher in Richtung der Auseinandersetzung zu gehen und genauer zuzuhören. Ich spreche die beiden an und frage, ob ich behilflich sein könnte.
Die Frau schildert uns, dass der Mann sich als Handwerker ausgegeben habe, um den Wasserdruck zu überprüfen. Sie habe ihn hineingelassen und bei seinem späteren Herausgehen dann beobachtet, wie er den Haustürschlüssel von innen entfernt und mitgenommen habe. Ich schaue mir den Mann genau an. Er trägt typische Handwerkerkleidung. In seiner linken Hand hält er ein Stück Papier, das wie ein Ausweis wirkt. Aber irgendetwas stimmt nicht. Ein Handwerker an einem Samstag?
Ich bitte den Mann, kurz hierzubleiben und mir die Situation zu erklären. Wenn er, wie behauptet, keinen Schlüssel entwendet habe und aus guten Gründen im Haus gewesen wäre, dann bräuchte er ja nichts zu befürchten? Aber erneut: irgendetwas stimmt nicht. Er wiederholt sich einfach nur – wirkt dabei sichtlich nervös. Schnell wird klar, dass der angebliche Handwerker sich der Situation entziehen möchte und anfängt, wegzugehen. Würde jemand, der unschuldig ist, flüchten? Oder sich versuchen zu erklären und ein etwaiges Missverständnis aufklären?
Ich schaue ihn mir noch einmal an, dieses Mal genauer. Er ist fast so groß wie ich. Meine Körpergröße von 194 cm gibt mir in Stresssituationen immer ein sicheres Gefühl. Selten ist jemand ansatzweise so groß wie ich, fast nie größer. Er aber macht körperlich einen stabilen Eindruck. Er wirkt auch nicht ungepflegt oder ähnliches. Ich würde sagen, eher klassisch – wie ein Handwerker eben. Seine Kleidung unterstreicht das Ganze. Sein vermeintlicher Dienstausweis, der mir nach genauerem Betrachten jedoch wie ein zusammengeschustertes Blättchen erscheint, lässt mich allerdings skeptisch bleiben. Darüber hinaus hat der Mann extrem schlechte Zähne. Wie man sie von stark Drogenabhängigen kennt. Irgendetwas stimmt hier nicht. Und erneut fängt er an, sich vom Ort des Geschehens wegzubewegen.
Nun versucht er endgültig, sich aus dem Staub zu machen. Schnellen Schrittes gehe ich ihm hinterher und bitte eingangs erwähnte Freundin, die Polizei zu rufen. Ich halte einen Sicherheitsabstand zu dem Mann ein und ärgere mich darüber, dass ich beim Verlassen von IPA zu faul war, in ordentliches Schuhwerk zu schlüpfen. Mit Badelatschen verfolgt es sich nicht so einfach, wie in Sneakern. Aber egal. Alles, was ich machen muss, ist in seiner Nähe zu bleiben und die Polizei zu uns zu lotsen. Wenn er wirklich unschuldig sein sollte, wird sich alles aufklären. Wenn jedoch nicht, – im schlimmsten Fall handelt es sich um einen professionellen Serieneinbrecher – dann entgeht mir die Chance, die Nachbarschaft meiner Akademie ein kleines Bisschen sicherer zu machen. Dies darf nicht geschehen.
Der Mann fordert mich auf, ihn in Ruhe zu lassen. Ich entgegne ihm, dass sich diese Situation durch Weglaufen nicht lösen wird. Ich werde bei ihm bleiben. Wenn er möchte, dass dies ein Ende nimmt, brauche er bloß stehenzubleiben und sich kurz der bald eintreffenden Polizei erklären. Ich gebe ihm die Wahl. Er entschließt sich zur weiteren Flucht. Ich mich zur weiteren Verfolgung. Für einen Moment überlege ich mir den möglichen Ausgang dieser Situation. Spätestens, wenn er am nahegelegenen Bahnhof in eine S-Bahn steigt oder in einer Menschenmenge verschwindet, würde sich mein Ansatz nicht mehr umsetzen lassen. Aber ihn jetzt im Rahmen der Jedermann-Festnahme zu packen und notfalls zu Boden zu ringen und ihn dort zu fixieren? Ich empfinde das als kritisch. Darüber hinaus weiß ich nicht zu 100 %, ob ich unbeschadet aus einem solchen Gemenge herauskommen würde.
Ich kann fast jeden Nichtkampfsportler in einem Kampf Eins gegen Eins bezwingen. Gegen die meisten müsste ich mich nicht mal anstrengen. Aber wirklich sicher sein, kann man sich nie. Insbesondere einen möglichen Waffengebrauch kann man nicht ausschließen. Hiergegen wäre ich zwar nicht komplett machtlos, aber keinesfalls ausgebildet. Meine Trainings- und Wettkampferfahrung als Kampfsportler ist riesig. Auch kriegsähnliche Erlebnisse habe ich durchmachen müssen, allerdings ist meine Fähigkeit im Waffengebrauch sowie die Abwehr dieser stark begrenzt. Der Mann wird lauter und fängt an, mich fast schon schreiend aufzufordern, ihn nicht mehr länger zu verfolgen. Ich bleibe hartnäckig und wiederhole meine vorherige Aussage.
Plötzlich wird es brenzlig. Ohne erkenntliches Zeichen einer Vorankündigung dreht sich der Mann zu mir um und beginnt innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde, den von mir stets eingehaltenen Sicherheitsabstand zu schließen. Er kommt auf mich zu und holt zum Schlag aus. Alles klar. It’s on. Ich habe ihm die Möglichkeit gegeben, sich dieser Situation mit Worten zu stellen. Er entschließt sich für Fäuste. Okay. Dann halt so.
Der erste low kick mit meinem rechten Bein kommt reflexartig. Mein Boxen war immer katastrophal schlecht. Meine Kicks hingegen waren zu meinen besten Zeiten auf einem Niveau, das erschreckend hoch war. 2020 zum Beispiel habe ich einen aggressiven Gast in der Discothek mit einem perfekt platzierten Schienbeintritt auf seinen Oberschenkel zum sofortigen Kampfabbruch motiviert. Humpelnd begab er sich damals vom Platz, obwohl er mich wenige Minuten vorher noch mit dem Tode bedroht hatte. Große Fresse, nichts dahinter.
Meinen jetzigen Kontrahenten jedoch treffe ich zunächst nicht kritisch. Meine Deckung schützt mich vor seinen Schlägen und verhindert, dass ich Schaden erleide. Gleichzeitig weiche ich zurück und fange an, ihn zu umkreisen. Cover, circle, close the distance, strike, move away. Eine bekannte Strategie – insbesondere von Kickboxern mit langen Gliedmaßen. Er verfolgt mich und ich umkreise ihn weiter. Einen nächsten Versuch seinerseits, die Distanz zu schließen, beantworte mich mit einem front kick zum Solarplexus. Meine Badelatschen sind suboptimal, aber beeinträchtigen mich zum Glück nicht sonderlich. Der Tritt zur Brust hat gesessen. Mein Gegner ist angeschlagen. Nun ist es der Moment gekommen, die Situation zu beenden. Die Phase für einen kritischen Treffer hat begonnen.
Unter normaleren Umständen hätte ich nach einem Warnhieb erneut das Gespräch gesucht und probiert, verbal zu deeskalieren. Dieser Mann jedoch hat mich angegriffen. Nicht einmal, sondern mehrfach. Er hört nicht auf, zu versuchen, auf mich einzuschlagen und macht nicht den Eindruck, seine Kampfhandlung einstellen zu wollen. In Ordnung. Wer nicht hören will, muss fühlen. Die Zeit für Gespräche ist vorbei. Proaktiv schließe ich nun die Distanz und lasse einen Hagel von Schlägen und Tritten auf ihn niederregnen. Meine mittlerweile zwölf Jahre zurückliegende Erfahrung und die daraus resultierten Fähigkeiten im Muay Thai sind eingerostet, aber noch von großer Bedeutung. Hunderte Stunden Sparring in einem der berüchtigtsten Thaibox-Gyms Hamburgs haben mich hart gemacht. Ich verspüre keine Angst. Und erkenne mein Fenster. Time to move in. Low kicks, front kicks. Jab, hook. Ich treffe ihn mehrmals im Gesicht und spüre an meiner rechten Faust, meiner dominanten Hand, augenblicklich den eigens erlittenen Schaden. Seinem Kiefer und Jochbein dürfte es aber deutlich schlimmer ergehen.
Daraufhin nehme ich erneut einen Sicherheitsabstand ein und warte seine Reaktion ab. Er ist nicht zu Boden gegangen, aber eingeknickt. Er richtet sich wieder auf. Die nächste Phase meines Kampfplans hätte vorgesehen, ein letztes Mal die Distanz zu schließen und in den thai clinch überzugehen. Von dort aus hätte ich das Potenzial für massive Wirkungstreffer. Knees to the stomach, bis er die Kontrolle über seinen Körper verloren hätte und off balance gewesen wäre. Anschließend einen blitzschnellen go behind und einen mat return mittels rear body lock. Nur, dass der Asphalt härter als eine Matte ist. Aber das wäre sein Problem. Er hat sich das eingebrockt. Daraufhin hätte ich top position eingenommen, die full mount gesucht. Shin pin mit dem rechten Schienbein auf seinen linken Unterarm. Wrist ride mit der linken Hand auf seinen rechten Unterarm. Anschließende Totalfixierung. Anlassbezogenes ground and pound mit der rechten Faust. Hammer fists, um meine bereits angeschlagenen Knöchel zu schützen. 12 to 6 elbows für den absoluten Notfall. Der Ausgang des Kampfes wäre spätestens mit der Etablierung der full mount position endgültig besiegelt gewesen.
Doch dazu kam es nicht. Er entschließt sich zur Flucht und rennt vor mir weg. Für einen Moment bekomme ich Panik, da er sich in die Richtung meiner weiblichen Begleitung begibt. Was hat er denn nun vor? An einem dort parkenden Auto reduziert er sein Tempo und öffnet die Beifahrertür. Er steigt ein. Was zum Teufel passiert hier gerade? Nimmt er jetzt allen Ernstes einen unbeteiligten Autofahrer als Geisel und erschafft sich einen Fluchtwagen? Doch dann wird klar: die beiden kennen sich. Der Fahrer startet den Motor und gemeinsam rasen sie davon. Wir schreiben uns zügig das Kennzeichen auf und übergeben es der wenig später eintreffenden Polizei.
Unsere Nachbarschaft in der Warnstedtstraße und Umgebung ist eine wunderschöne. Ich bin hier jetzt seit bald drei Jahren mit meinem Gewerbe ansässig. Und pflege viele Kontakte zu den Bewohnern unseres Viertels – nicht wenige davon sind Mitglieder bei IPA oder vertrauen uns ihre Kinder an. Wir arbeiten mit den umliegenden Schulen zusammen und engagieren uns in der Gewaltprävention innerhalb der Schülerschaft. Für manche Teenager sind wir sowas wie Ersatzväter und haben stets eine offene Tür – und ein offenes Ohr.
In letzter Zeit kommt es vermehrt auch bei uns in Stellingen zu Delikten. Einbrüche und Fahrraddiebstähle. Aggressive Trinker bei Aldi. Enkeltricks bei Senioren. Aber auch deutlich schlimmeres: Letztens wurde eine unserer Fleißigsten – ein vierzehnjähriges Mädchen – von einem Betrunken nach dem Training auf dem Weg zur Bushaltestelle sexuell belästigt und angegrabscht. Sie konnte ihre Ausbildung bei IPA dazu nutzen, die Gefahr zu bannen und den Angreifer in die Flucht zu schlagen. Die Polizei nimmt Anzeigen auf und versucht ihr Bestes. Aber verändern tut sich leider nicht viel. Ich kann die Kollegen verstehen. Ihre Mittel reichen nicht aus – zu knapp die Ressourcen, zu hoch der Anstieg der Kriminalität in unserer schönsten Stadt der Welt. Und das Allerschlimmste? Was jetzt sogar vermehrt vorgekommen ist? Anquatschen von Kindern im Grundschulalter. Das Muster? Immer gleich: Ein Mann spricht ein Kind an – ein anderer sitzt im nahestehenden Auto. Anschließend fahren sie gemeinsam davon. Bisher noch niemals mit Erfolg – einer vollendeten Kindesentführung. Aber wie lange noch?