Wer kennt es nicht? Zumindest bei mir in Hamburg, aber laut gängiger Nachrichten auch in vielen anderen Teilen Deutschlands, ist es mittlerweile sehr schwierig geworden, zeitig an Facharzttermine zu kommen. Die Praxen sind hoffnungslos überlaufen und nehmen oftmals keine Neupatienten mehr an. Wer nicht bereits seit längerer Zeit angebunden ist hat Pech und muss nicht selten eine Odyssee des Suchens auf sich nehmen. Oder eben in die Notaufnahme gehen, weil man einfach keinen Termin beim Arzt bekommt – was dann wiederum beim Personal im Krankenhaus meist sehr schlecht ankommt. Denn die sind dort ja auch überlastet.
Ich möchte in diesem Artikel auf eine von mir über die Jahre perfektionierte Strategie eingehen. Mit dieser stelle ich mit beinahe einhundertprozentiger Erfolgsquote sicher, dass ich an der Rezeption eines Arztes (oder in einer vergleichbaren Situation) nicht abgewiesen werde. Oder andere Dinge möglich mache, die sonst angeblich nicht machbar wären. Schlicht durch Freundlichkeit – gepaart mit dem geschickten Einsatz von Wertschätzung, Dankbarkeit und Unaufdringlichkeit.
Letztens hatte ich eine große Sorge. Eins von zwei baugleichen Elementen eines gewissen Körperteils des Mannes war bei mir merklich angeschwollen. Und das nicht zum ersten Mal. Wenige Wochen vorher hatte ich dies bereits, wenn auch in deutlich milderer Form, bei mir festgestellt. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht und erklärte es mir so, dass ich mich wahrscheinlich beim Fahrradfahren gestoßen oder anderweitig ungünstig auf dem Sattel platziert hatte. Oder beim Jiu Jitsu möglicherweise einen flying knee cut abbekommen hatte, der nicht ins eigentliches Ziel geflogen war – je nach Intention und Kompetenz meines Sparringpartners natürlich.
Nun war es aber offensichtlich: Es handelte sich um eine wiederkehrende Sache, für welche es keinen augenscheinlichen Grund gab. Und mit welcher man bestenfalls schnellstmöglich ärztlichen Rat aufsuchen sollte. Sicher auch nicht komplett ohne angedachten Eigennutzen schickte mir die Frau, mit der ich mich zum besagten Zeitpunkt in einem intimen Verhältnis befand, eine Reihe nachgeschlagener möglicher Gründe und Konsequenzen für meine Symptomatik und verlieh meinem Impuls, zum Arzt zu gehen, mit ihrer expliziten Bitte Nachdruck. Gedacht, getan.
Oder zumindest war das der Plan. Mal abgesehen davon, dass viele Arztpraxen noch immer nicht Online-Buchungssysteme wie Doctolib nutzen und stattdessen telefonische Terminvereinbarung voraussetzen, funktioniert dies oftmals auch nicht. Denn wer hat nicht schon mal – mehrmals am Tag sogar – versucht, durch die Warteschleife zu kommen? Und dann irgendwann entnervt aufgegeben, weil einfach nicht abgenommen wurde? Darüber hinaus kann ich diesen Vorgang aber auch nicht empfehlen. Denn: Wenn Arztpraxen nicht selten bereits keine Neupatienten mehr annehmen oder oftmals lange Wartezeiten für Termine haben, dann nützt ein Anruf zur Terminvereinbarung wahrscheinlich auch nichts. Man würde, sollte man jemanden ans Telefon bekommen, abgewiesen werden. Oder man bekäme einen Termin so weit in der Zukunft vorgeschlagen, auf den man aufgrund der Dringlichkeit nicht warten können würde. Um seinen Erfolg sicherzustellen, bedarf es einer Strategie.
Der Dreh- und Angelpunkt einer Arztpraxis ist die Rezeption. Die Person, die dort sitzt, kann vieles möglich machen. Und sie kann vieles ablehnen. Oftmals auch im Voraus und aus Prinzip, einfach, weil es eine aufgestellte Regel ist, wie zum Beispiel der Neupatienten-Aufnahmestop. Nicht selten wird einem dann am anderen Ende der Leitung schon mal gesagt: „Sorry, wir sind voll." - gefolgt von einem sofortigen Auflegen. Aber mit Regeln ist das so eine Sache. Denn man kann sie brechen. Beziehungsweise flexibel anwenden. Dies kann am Telefon so gut wie nicht erreicht werden, sondern muss im persönlichen Kontakt mit der verantwortlichen Person, die sich in der Hebelposition befindet, sichergestellt werden.
Auch wenn es für mich eine zusätzliche Fahrt zur Arztpraxis bedeutete, sparte mir mein nachfolgend beschriebener Vorgang tatsächlich Zeit. Denn die insgesamt 45 Minuten Fahrtzeit, die im Fallbeispiel von mir zumindest auf dem Fahrrad und bei strahlender Sonne aufgewendet werden mussten, hätte ich wahrscheinlich sowieso mindestens in Telefonwarteschleifen verbracht – wenn nicht sogar mehr. Und nicht nur wäre das deutlich frustrierender, sondern darüber hinaus wie bereits erwähnt höchstwahrscheinlich von anschließendem Misserfolg gekrönt gewesen. Stattdessen tat ich Folgendes:
Nach meiner Ankunft und vorm Eintritt in die Praxis las ich sämtliche Schilder, die sich an der Tür befanden. Wichtig waren nicht nur die Namen der beiden Ärzte – ein Ehepaar in Arbeitsgemeinschaft – sondern auch eventuelle Hinweise. Mancherorts wird zum Beispiel darauf aufmerksam gemacht, dass man bitte klingeln und mit dem Eintritt warten möge. Oder dass man aus Diskretions- und/oder Platzgründen nicht sofort an die Rezeption herantreten solle. Oder, wie im Fallbeispiel, man ausschließlich mit Maske in die Praxis hereinkommen dürfe. Eine bekannte Maßnahme aus der Corona-Zeit, welche zum besagten Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren praktisch keine Anwendung mehr fand und mich auch komplett überraschte. Denn eine Maske hatte ich nicht bei mir.
Aber egal: Nicht nur ist es das gute Recht der Arztpraxis und deren Betreiber, eine solche Regel aufzustellen, sondern es war direkt meine erste Chance, einen positiven Eindruck bei der Mitarbeiterin an der Rezeption zu erzeugen. Denn nachdem ich die Tür geöffnet hatte und eingetreten war, blieb ich zunächst dort stehen und machte auf mich aufmerksam. Etwas überrascht schaute die Frau mich an, bis ich mein Anliegen anfangs aus der Ferne kommunizierte. Ich entschuldigte mich erst einmal dafür, dass ich bereits hereingekommen war, trotz der Maskenpflicht. Ich teilte ihr mit, dass ich leider diesbezüglich nicht vorbereitet war und mich lieber erst erkundigen wollte, ob das Schild noch aktuell sei (Explizit auf die Vermeidung eines vorwurfsvollen Tons achten!) und ob ich hereinkommen dürfe. Ihre Antwort ließ erkennen, dass das Thema gegenwärtig wohl keine besondere Aufmerksamkeit mehr erfuhr, möglicherweise ein Relikt aus der Vergangenheit war, und sie bat mich herein.
Durch mein Verhalten erreichte ich drei Dinge. Indem ich nicht sofort an die Rezeption herangetreten war, zeigte ich ihr folgendes:
Ich war in der Lage, Schilder zu lesen und Informationen zu verarbeiten. Für Mitarbeiter im Dienstleistungsgewerbe ist es oftmals eine unheimlich frustrierende und ständig auftretende Erfahrung, dass Kunden/Patienten/Klienten einfach nicht kurz stehen bleiben und innehalten, sondern Schilder nicht wahrnehmen, an diesen vorbeilaufen und die bedeutsamen Informationen nicht mitbekommen. Auch wenn dies menschlich ist und man darauf eigentlich nicht böse sein sollte, passiert es wie gesagt oft und ist frustrierend. Und was ist ebenfalls menschlich und eine gängige Folge von Frust? Enttäuschung. Aber auf Dauer auch Verbitterung. Und sogar Ärger und Aggression.
Durch das Stehenbleiben in der Tür und das Erfragen, ob es in Ordnung wäre, wenn ich hineinkäme, zeigte ich Respekt. Nicht nur gegenüber den Regeln der Praxis, sondern insbesondere auch der Mitarbeiterin. Denn letzten Endes zielte die Maskenpflicht aus der Vergangenheit ja auch auf den Schutz des Personals ab. Eine weitere häufige Erfahrung von jenem ist es nämlich, dass sie oftmals das Gefühl bekommen, nicht als Menschen wahrgenommen und nicht wie solche behandelt zu werden. Sondern sich wie ein Mittel zum Zweck bzw. wie Maschinen fühlen. Mit dem Sentiment, dass der Patient hineinkommt, etwas will und der Mitarbeiter an der Rezeption dies jetzt sofort, im Sinne des Verlangenden und mit aller Aufmerksamkeit zu erledigen habe.
Aufgrund der Tatsache, dass mein Verhalten höchstwahrscheinlich einen Gegensatz zur gängigen Erfahrung darstellte, erzeugte es einen erfreulichen Kontrast beim Gegenüber und eine positive Einstellung zu mir.
Die Voraussetzungen für eine produktive Interaktion und einen Erfolg für mein Ziel, schnellstmöglich einen Termin zu erhalten, waren geschaffen. Ohne viel miteinander gesprochen zu haben. Durch größtenteils nonverbale Kommunikation hatte ich es geschafft, der Mitarbeiterin ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und ihr mein Anliegen präsentieren zu dürfen.
Das Aufwärmen war gut verlaufen. Doch der wahre Kampf stand noch bevor. Als BJJ-Schwarzgurt, hocherfahrener Wettkämpfer und Betreiber einer erfolgreichen Kampfsportschule musste ich alle meine Fähigkeiten mobilisieren und zur Anwendung bringen. Das Innere Jiu Jitsu würde mich begleiten. Und etwas anderes war nötig: eine gehörige Portion Strategie.