So stand ich nun also vor der Empfangsmitarbeiterin, nachdem ich von ihr hereingebeten worden war. Wichtig zu wissen ist, dass Menschen im Dienstleistungsgewerbe schon alles erlebt haben, was es an negativem Benehmen zu erleben gibt. Nicht nur kann man sich durch respektvolles und wertschätzendes Verhalten positiv hervorheben und die eigenen Chancen auf Erfolg für sein Vorhaben steigern, sondern man muss dafür nicht mal großartig Mehrarbeit leisten. Es fängt schon in viel kleinerem Maße an: zum Beispiel bei der Begrüßung.
Statt mit einem einfachen „Hallo” begrüßte ich sie mit „Schönen guten Tag”. Ich habe mal während meiner Ausbildung von einem meiner Kollegen aus der Montageabteilung gelernt, dass ältere Menschen nicht gerne mit „Hallo” begrüßt werden. Ich war damals zur Aushilfe mit auf Einsatz und wir hatten einen Montageauftrag in einem Pflegeheim auszuführen. Dort redete ich eine Bewohnerin mit dem erwähnten Gruß an und wurde später von besagtem Kollegen korrigiert. Ich habe seine Empfehlung nie infrage gestellt und tatsächlich hat er sie auch nicht begründet. Aber gemerkt habe ich sie mir auf jeden Fall und bringe sie stets zur Anwendung – auch bei Nichtsenioren. Denn nach meiner Interpretation ist ein „Hallo” einfach etwas faul. Jeder sagt es, es hat quasi keine Bedeutung – keinen Alleinstellungswert. Es sind zwei kurze Silben, nur ein „Hi” wäre an Einsatz noch zu unterbieten. Darüber hinaus ist „Guten Tag” einfach etwas formaler und deutet auf einen gewählteren Wortgebrauch hin. Das „Schönen” noch davorzusetzen macht es zusätzlich bedeutsamer und beginnt die Konversation meiner Meinung nach mit einem guten Start.
Bevor das Gespräch nun wirklich losging, schaute ich kurz auf ihr Mitarbeiterschild, das sie links auf Brusthöhe trug. Dies enthielt einen Namen, einen türkischen. Eine Person zur Begrüßung direkt beim Namen anzusprechen ist nicht nur mächtig – jeder mag es, beim Namen angesprochen zu werden –, sondern erzeugt zusätzlich einen massiven Alleinstellungswert. Ich kann fast schon garantieren, dass Menschen im Allgemeinen, aber insbesondere Empfangspersonal, sicherlich so gut wie nie beim Namen angesprochen werden. Zusätzlich konnte ich, meinen ca. 40 Stunden Privatunterricht Türkisch aus dem Jahre 2019 sei Dank, die Aussprache ihres Namens korrekt tätigen. Das ğ und das ı sind nämlich häufige Buchstaben in türkischen Wörtern und werden ganz und gar anders ausgesprochen, wie man es als Deutscher gewohnt ist und vermuten würde.
Nächster wichtiger Punkt: das Gespräch wurde eröffnet, in diesem Fall sogar unter Verwendung des Namens der betreffenden Person. Unabhängig davon ist es meiner Meinung nach gute Schule, zu Gesprächsbeginn seinen eigenen Namen zu nennen. Statt einfach direkt auf das eigene Anliegen zu sprechen zu kommen und als identitätslose Person zu agieren, nennt man seinen Namen und anschließend den Grund des Besuchs. So hat man mit wenigen Mitteln, die unterm Strich nicht mal eine Minute Zeit gekostet haben, bereits so viele Dinge anders (und besser) gemacht, als die meisten Menschen im Dienstleistungsgewerbe das gewohnt sind.
Schönen Guten Tag..
Frau [türkischer Nachname]..
Mein Name ist..
Ich bin leider mit einer Sorge hier und hatte gehofft, dass Sie mir möglicherweise helfen können..
Der vierte Punkt ist nun wichtig: Jetzt, wo es ans Eingemachte ging, war es von Bedeutung, mein Anliegen zügig und treffend zu erklären, ohne jedoch fordernd oder mit Druck zu agieren. Besonders auch Formulierungen wie „ich hatte gehofft” oder Worte wie „möglicherweise” und die Verwendung des Konjunktivs unterstützen diese defensive Herangehensweise.
Im Prinzip geht es darum, dem Gegenüber es so einfach wie möglich zu machen, das eigene Anliegen nicht abzulehnen – obwohl dies möglicherweise sogar Vorschrift wäre –, sondern mit einem Ja zu beantworten. In einer gewissen Hinsicht sollte der Mensch einem helfen wollen und einen nicht als lästige Arbeit betrachten. Der Gedanke „das ist aber ein höflicher junger Mann” sollte aufkommen, gefolgt von einem „ihm möchte ich helfen”.
Natürlich handelt es sich dabei zum Teil auch um eine gezielte Manipulation meinerseits, die ich hier zu meinem Vorteil zur Anwendung bringe. Aber ich denke mir immer, solange dabei niemand zu Schaden kommt? Selten habe ich bei einer Dame an der Rezeption nicht ein Lächeln auf ihre Lippen zaubern können. Und das liegt nicht etwa daran, dass ich so ein toller Typ bin. Sondern weil es leider schlicht und ergreifend so selten geworden ist, dass im öffentlichen Kontakt in unserer Gesellschaft noch rücksichtsvoll miteinander umgegangen wird. Alle wollen, was sie wollen – und zwar jetzt und ohne Wartezeit. Keiner denkt mehr an den Anderen. Einfache Höflichkeit wie der Gebrauch von „Bitte” und „Danke” verkommt immer mehr zur Seltenheit.
Was man anschließend nicht vergessen darf, sind zwei Dinge: Erstens ist fast alles möglich, was angeblich nicht möglich ist. Es ist nur eine Frage, ob die Person in der Hebelposition, in dem Fall die Empfangsmitarbeiterin, den Wunsch hat, es möglich zu machen. Und zweitens darf man auf eine eventuelle erste Ablehnung nicht mit Hinnahme reagieren, sondern muss die Dinge versuchen umzudrehen. Es ist möglich. Die Frage ist nur, ob man bereit ist, fürs eigene Anliegen zu kämpfen oder unverrichteter Dinge wieder nach Hause geht?
Denn auch in meinem Fall äußerte die Empfangsmitarbeiterin zunächst ablehnende Worte. Wie zum Beispiel:
Wir nehmen keine Neupatienten an
Wir sind mit Terminen aktuell im August (es war April)
Meiner Erfahrung nach kann man sehr oft aus einer Ablehnung eine Zustimmung machen – vorausgesetzt, man hat sich an die eingangs erwähnten Umgangsformen gehalten. Und zwar ganz einfach dadurch, dass man die erste negative Antwort nicht akzeptiert und nochmal nachfragt. Natürlich sollte dies nicht kackendreist geschehen und jegliche Anerkennung für die schwierige Situation des Gegenübers vermissen. Folgende simple Formulierung kann schon sehr viel bewirken:
„Ich kann Ihre Situation verstehen. Wäre es irgendwie möglich, mich unterzubekommen?”
Mehr nicht. Der erste Satz drückt Verständnis und Aufmerksamkeit aus. Und mit dem zweiten wiederholt man einfach nur sein Anliegen – natürlich unter Verwendung des Konjunktivs und mit Wörtern wie „irgendwie” / „möglicherweise” und so weiter. Es ist wirklich kein Hexenwerk. Aber macht verdammt viel aus. Auch sehr mächtig sind ein stetiger Augenkontakt während der Interaktion und das ein oder andere Lächeln. Wie gesagt, man muss es schaffen, beim Gegenüber den Wunsch zu wecken, einem helfen zu wollen.
Auch wertschätzende Sätze wie
Vielen Dank für Ihre Arbeit
Vielen Dank für Ihre Zeit
Vielen Dank für Ihren Einsatz
Ich weiß es sehr zu schätzen
drücken aus, dass man es nicht für selbstverständlich nimmt und dankbar für die Hilfe ist.
Anliegen sind oftmals gar nicht das Problem. Sondern die Art und Weise, wie sie vorgetragen werden. So erleben Empfangsmitarbeiter im medizinischen Bereich es zum Beispiel oft, sei es bei spontanen Praxisbesuchen in der Notfallsprechstunde oder in der Notaufnahme im Krankenhaus, dass nach der Dauer der Wartezeit gefragt wird. Obwohl jedem klar ist, dass man schnellstmöglich behandelt wird, jedoch nicht in der Reihenfolge seines Eintreffens, sondern nach der Dringlichkeit seiner Erkrankung oder Verletzung, möchte man natürlich dennoch, zumindest in etwa, die Wartezeit kennen. Es macht einfach einen Unterschied, ob man sich auf eine oder vier Stunden Wartezeit einstellen muss. Und natürlich fragt man dann nach. Jedoch ist der Gegensatz zwischen folgenden Formulierungen riesig:
Wie lange muss ich warten?
oder
Ich weiß, Sie hören diese Frage sicherlich oft – aber dürfte ich vielleicht erfragen, wie lange in etwa die Wartezeit betragen wird? Eine kleine Auskunft würde mir sehr helfen.
Das Gegenüber wird immer ein Verständnis dafür haben, dass man eine wichtige Information, selbst wenn sie nicht nennbar sein sollte, gerne haben möchte. Wo aber das Verständnis sehr schnell enden wird, ist, wenn mit anspruchsberechtigter Attitüde nachgefragt wird, schlimmstenfalls noch mit genervtem Tonfall. Menschen sind Menschen. Und besonders in Notsituationen neigen wir zu emotionalem Verhalten und dadurch bedingten Äußerungen und Formulierungen. Dennoch gilt: auch die Menschen, von denen man etwas will, sind Menschen. Mit ihren eigenen Gefühlen und Wünschen. Und ein Wunsch eines jeden Menschen ist es sicherlich, respektvoll behandelt zu werden. Und ein sehr schnell entstehendes Gefühl, wenn dies nicht geschieht, ist Ärger. Und damit verbunden dann Ablehnung, insbesondere wenn man sich in einer Hebelposition befindet.
Strategisch gewählte Worte und ein kluges Vorgehen können einen unheimlich bevorteilen und sehr weit bringen. Das Schöne ist, dass sich dies in vielen kleinen, vermeintlich unbedeutsamen Alltagssituationen üben lässt. All die beschriebenen Mittel sind natürlich auch unter deutlich ernsteren Gegebenheiten anwendbar. Auch wenn es viele Beispiele gibt, in denen weniger Taktgefühl, Behutsamkeit und Ruhe, sondern Aggression, Offensive und Dominanz zum Einsatz kommen müssen, sind erstgenannte Eigenschaften immer ein wertvoller Inhalt im Arsenal. Oftmals stellen sie sich sogar als Ass im Ärmel heraus. In meinem Fall konnte ich sicherstellen, keinen Krebs zu haben und/oder einen Totalverlust wichtiger Körperteile zu erleiden.
Ich mag es, das alles als Strategie zu betrachten. Wie schon erwähnt, in einer gewissen Hinsicht handelt es sich dabei um Manipulation – nur finde ich dieses Wort einfach verhältnismäßig böse – es lässt einen wie der Übeltäter erscheinen. In Wahrheit stehen wir als Menschen einfach mit unserem Bedürfnis, gewisse Ziele zu erreichen, vor der Frage: wie machen wir es? Wir alle besitzen die Fähigkeit, andere Menschen mit unserem Handeln zu beeinflussen und tun dies, im Rahmen unserer Möglichkeiten, natürlich in unserem Sinne und zu unserem Vorteil. Bei der Wahl des Mittels bevorzuge ich eindeutig eine besonnene Strategie und finde es immer besonders charmant, wenn ich bei der Erreichung meines Ziels die involvierte Person nicht nur nicht schädige, sondern im besten Fall sogar noch mit einem besseren Gefühl zurücklasse, als ich sie vorgefunden habe.