Der Tag war gekommen und ich ging zum Urologen, wo man mich freundlicherweise als Neupatient angenommen und mir zügig eine Untersuchung ermöglicht hatte. Obwohl ich ja bereits einen Termin erhalten hatte, stellte ich vor dem Eintritt in die Praxis noch einmal sicher, dass gleich nichts schiefgehen würde. Denn: Das Personal könnte einen schlechten Tag haben, es könnte einen Ansturm von Notfallpatienten geben oder vielleicht einen Krankheitsfall im Team und damit verbundene Unterbesetzung. Ein problemloser Ablauf war also keinesfalls garantiert.
Eine erste Sache, die immer direkt erledigt werden kann, nichts kostet und sich positiv auswirkt: Kurz die Frontkamera des Telefons einschalten oder einen Blick in einen Spiegel werfen. Ich prüfte, ob meine Haare und mein Bart halbwegs ordentlich aussahen. Vollkommen egal, ob das fair ist oder nicht, aber gutaussehende Menschen werden in der Gesellschaft besser behandelt. Sei es in Bezug auf Höflichkeit, Freundlichkeit oder eben auch Bevorzugung. Vieles des eigenen Aussehens kann man nicht beeinflussen, einiges jedoch schon. Sich kurz die Haare zu richten und den möglicherweise struppigen Bart etwas in Form zu bringen – das kann jeder.
Bevor ich nun die Praxis betreten würde, atmete ich nochmal tief ein und fühlte in mich. Für den Fall, dass meine Mitmenschen gleich gestresst sein sollten, würde es viel wert sein, als Gegenstück eine ruhige Ausstrahlung und dadurch eine beruhigende Wirkung zu haben. In meinem Fall ist das (meist) eh Teil meiner Charakteristik, doch jeder Mensch kann das aktiv erzeugen. Durch Achtsamkeit kann man regen Einfluss aufs eigene Gemüt und infolgedessen auf seine Mitmenschen ausüben.
Unmittelbar nach meinem Betreten der Räumlichkeiten stellte ich fest, dass es das Empfangspersonal in diesem Moment mit einem schwierigen Menschen zu tun hatte. Trotz eingehaltenen Diskretionsabstands war es schwierig, es nicht lautstark mitzubekommen: Der Mann hatte Schmerzen, er wünschte sich eine Behandlung. Die Antwort der Mitarbeiterin, die mit ihm sprach, wurde mehrmals wiederholt: Es musste erst eine Untersuchung beim Orthopäden erfolgen, um gewisse Dinge auszuschließen. Man hatte ihn bei sich zuvor untersucht und es wurden beim Patienten keine Auffälligkeiten gefunden und man könne ihm jetzt zunächst nicht weiterhelfen. Der Fall war relativ klar, so wie ich das vernehmen konnte. Der Tonfall der Frau ließ erkennen, dass sie durch die Situation belastet war, auch wenn man ihr stark anmerken konnte, dass sie sich um eine professionelle Handhabung bemühte.
Durch meine jahrelange Tätigkeit als Türsteher habe ich große Erfahrungswerte im Umgang mit Menschen, insbesondere mit schwierigen. Ich weiß ganz genau, wie sich die Mitarbeiterin in dem Moment gefühlt haben muss. Und auch, wie nervig es ist, wenn das Gegenüber auf eine Antwort schlicht mit einer exakten Wiederholung des eigenen Anliegens reagiert. Es ist, als würde einem nicht zugehört worden sein. Eine Antwort zu geben, die logisch und aufschlussreich ist und vom Gegenüber eigentlich akzeptiert werden müsste, wird ignoriert und es wird quasi wortgleich wiederholt, was bereits klar ist: Der Mann habe Schmerzen und wünsche sich eine Behandlung. Ja, ist klar. Im ersten und zweiten Teil dieser Artikelreihe habe ich ja u.a. auch empfohlen, Ablehnungen nicht hinzunehmen und nochmal nachzuhaken. Jedoch kann dies nicht der alleinige Inhalt dieses Ansatzes sein. Es braucht eine Strategie. Und die beinhaltet in meinem Fall stets Freundlichkeit, Höflichkeit, wertschätzende Wortwahl und Respekt. Und natürlich etwas Hartnäckigkeit.
Nicht nachzugeben reicht aber nicht. Im besagten Fallbeispiel wurde das deutlich: Nachdem der Mann schlussendlich erfolgreich abgewiesen wurde und die Antwort der Frau akzeptiert hatte, meldete ich mich an. Auch wenn die Atmosphäre sich nicht schlagartig geändert hatte und der Stress noch in der Luft lag, gelang es mir innerhalb kurzer Zeit, ein Lächeln auf die Lippen der beiden Damen an der Rezeption zu zaubern. Eine einfache, aber gut formulierte Begrüßung in Kombination mit einem freundlichen Gesichtsausdruck reicht da meistens schon. Besonders in Fällen, wo es kurz zuvor heiß herging, ist es eine kontrastreiche und entspannende Abwechslung für die betreffende Person, wenn der nächste Mensch kein Nervenbündel oder Stressmacher ist, sondern das Gegenteil. Da kann man gar nicht anders, als fast schon dankbar zu sein.
Dasselbe Personal, das gerade noch von meinem Vorgänger genervt war und in dem Moment sicherlich wenig Spaß an ihrer Arbeit hatte, war mir nun freundlich, offen und hilfsbereit gesinnt. Obwohl ich erkennen konnte, dass die beiden einen größeren Haufen Verwaltungsarbeit auf ihren Schreibtischen liegen hatten, nahm man sich die Zeit, mir ausführlich auf meine Fragen zu antworten. Auch das behutsame Vorfühlen, ob eine Auskunft über die anzunehmende Wartezeit möglich wäre, war kein Problem. Es macht einfach einen riesigen Unterschied, ob eine gepflegte Person mit Manieren ein Anliegen hat oder man mit rüpelhaftem Auftreten konfrontiert wird. Sollte eigentlich selbstverständlich sein – aber dennoch hapert es bei vielen Menschen an genau dieser Auffassung.
Nicht zu unterschätzen ist auch, wie wichtig das Streben nach Anerkennung und der Wunsch nach dem Gefühl von Bedeutsamkeit in der menschlichen Psyche verankert ist. Menschen möchten sich gebraucht fühlen. Und jeder Mensch mag das Gefühl, wichtig zu sein. Ob man es zugeben möchte oder nicht, – man braucht es auch nicht großkotzig meinen – jeder will sich wichtig fühlen können. Ob es für mich in dem Moment für mich dringlich war, zu erfahren, warum ich direkt eine Urinprobe abgeben sollte? Wahrscheinlich nicht. Es hatte bestimmt einen diagnostischen Hintergrund – vermutlich, um gewisse Dinge direkt im Voraus ausschließen zu können oder im Zweifelsfall eine Laborprobe parat zu haben. Sicherlich würde der Arzt mir bei der Untersuchung gleich alles erklären. Dennoch fragte ich kurz bei der Empfangsmitarbeiterin nach. Und siehe da: Sie erklärte mir in auffälliger Ausführlichkeit, warum dies Teil des Prozederes war und konnte in dem Moment mit ihrem Wissen glänzen.
Was man nie vergessen sollte: Die meisten Menschen haben langweilige Jobs. Und oftmals arbeiten sie anderen Menschen zu, welche allgemein als „wichtiger” angesehen werden. Ein sicherlich klassisches Exempel ist genau dieses Fallbeispiel in einer medizinischen Einrichtung. Es gibt Ärzte. Und dann gibt es Assistenten, Pfleger und Helfer. Alle spielen eine Rolle im Arbeitsprozess – würde eine Stelle nicht vorhanden sein, könnte das System nicht funktionieren. Dementsprechend hat jede Position eine Bedeutsamkeit. Ob aber zuarbeitendes Personal die Anerkennung erhält, die beispielsweise Ärzte erhalten? Wohl kaum. Dieselbe Abbildung könnte man in anderen Bereichen aufführen wie zum Beispiel in Gerichten und Anwaltskanzleien, Gastronomie und Gastgewerbe, Politik und Nachrichten, Polizei und Sicherheitsbranche, Einzelhandel und Logistik, Pflege und Erziehung, Bildung und Wissenschaft. Überall gibt es Menschen, die in ihren Positionen als besonders wichtig wahrgenommen werden (und es sicherlich auch sind). Und all diese sind auf zuarbeitende Stellen angewiesen, ohne welche alles nicht funktionieren und zusammenbrechen würde. Es kann sehr folgenreich für einen selbst sein, diejenigen in den „unteren” Rängen nicht zu vergessen und für ihre Leistungen anzuerkennen. Und die Möglichkeiten zu schaffen, das Gefühl von Bedeutsamkeit zu verspüren.
Das Gefühl von Bedeutsamkeit ist meiner Meinung nach eines der unwahrscheinlich schönsten, die ein Mensch erleben kann. Sagen, denken oder fühlen zu können:
Ich bin wichtig
Ich mache einen Unterschied
Was ich kann und weiß, ist außergewöhnlich
Ich werde gebraucht
Das fühlt sich einfach gut an. Jeder braucht das, jeder möchte das. Und jedem gefällt es, wenn er es erleben kann. In der Familie und der Freizeit, aber natürlich auch im Beruf. Besonders in letzterem ist dies leider oft nicht der Fall und viele Menschen erleben nicht nur selten das Gefühl von Bedeutsamkeit, sondern vermissen auch Anerkennung, Wertschätzung und Respekt für ihre Leistung.
Dies zu wissen und bewusst anders zu machen, ist nicht nur für Menschen in Führungs- und Machtpositionen wichtig und mächtig. Sondern jeder Einzelne kann dies in seinem persönlichen Leben und vor allem auch in Alltagssituationen aktiv zur Anwendung bringen. Und das Beste daran? Nicht nur schafft man sich damit einen eigenen Vorteil, sondern man erzeugt im Gegenüber ein positives Gefühl, welches von vielen selten erlebt und stark vermisst wird.
Ach ja. Abschluss der Untersuchung beim Facharzt: kein Hodenkrebs. Leichte Entzündung eines Strangs. Alles in Ordnung.